„Every Living Thing“ ist das letzte der Bücher, die auf Goodreads in die Reihe „All Creatures Great and Small“ eingeordnet sind. Wie schon im Vorgänge„Every Living Thing“ ist das letzte der Bücher, die auf Goodreads in die Reihe „All Creatures Great and Small“ eingeordnet sind. Wie schon im Vorgänger „The Lord God Made Them All“ ist auch in diesem Band die Erzählung nicht länger chronologisch wie in den ersten drei Büchern, sondern anekdotenhaft. Wir hören wieder viel über schrullige Bauern, Haustierbesitzer, James‘ und Helens Kinder und ihr Familienleben. Auch dieser Teil kommt nicht an die ersten drei heran, hat mir aber besser gefallen als der letzte. Herriot besinnt sich wieder mehr auf die Themen, um die es in den ersten drei Bänden ging. Manchmal frage ich mich, ob wirklich ein einziger Tierarzt in seinem Arbeitsleben auf so viele Skurrilitäten treffen kann oder ob da nicht auch manches von Kollegen mit eingeflossen oder erdacht ist. Auf Audible ist noch ein Hörbuch namens „The Wonderful World of James Herriot“ verfügbar, das u. a. Nicholas Ralph als Sprecher aufführt. Ich vermute, dass es sich dabei um Ausschnitte aus den anderen Büchern handelt. Ich werde auf jeden Fall beobachten, ob da noch etwas geplant ist, auf Goodreads ist durchaus noch mehr von James Herriot zu finden, ich vermute aber, dass es sich dabei um Teil des Hauptwerks handelt, die separat verfügbar sind. Ich werde die aktuelle Serienverfilmung weiter verfolgen, auch wenn sie doch einen ganz anderen Fokus hat als die Bücher, und die ersten drei Bücher werde ich mir sicher irgendwann auch noch einmal anhören....more
Nicht nur dank meines sprachwissenschaftlichen Hintergrunds ist mir klar, wie wichtig Sprache in einer Gesellschaft ist. Mit Sprache und der DiskursveNicht nur dank meines sprachwissenschaftlichen Hintergrunds ist mir klar, wie wichtig Sprache in einer Gesellschaft ist. Mit Sprache und der Diskursverschiebung in Richtung Rechts schaffen Erzkonservative und Rechtsradikale es, dass immer mehr rechte und rechtsextreme Positionen in Deutschland akzeptabel werden. Das zeigt sich leider gerade mehr als deutlich. Der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer war ein Zeitzeuge aus dem Dritten Reich, der in seinem großen Werk „LTI – Notizbuch eines Philologen“ (LTI = Lingua Tertii Imperii) dokumentierte, wie die Nationalsozialisten mit Sprache arbeiteten. Angesichts dessen, was wir gerade nicht nur aus rechtsextremen, sondern leider auch in zunehmendem Maße aus konservativen Kreisen zu hören bekommen, lesen sich die vorliegenden Auszüge weniger unfassbar. Auch wenn es Beispiele gibt, die an Absurdität nicht zu übertreffen sind: „… ich durfte dem Tierschutzverein für Katzen keinen Beitrag mehr zahlen, weil im „Deutschen Katzenwesen“ – wahrhaftig, so hieß jetzt das zum Parteiorgan gewordene Mitteilungsblatt des Vereins – kein Platz mehr war für artvergessene Kreaturen, die sich bei Juden aufhielten“. (Seite 55)
Victor Klemperers Ausführungen können uns dabei helfen, die Formulierungen aus dem rechtsextremen Spektrum als das zu entlarven, was sie sind: höchst manipulative Propaganda. Als ich diese von Heinrich Detering zusammengestellten Auszüge aus der Büchergilde Gutenberg gekauft habe, wusste ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, nicht, dass es sich nur um Teile eines Gesamtwerks handelt. Diese reichen jedoch durchaus aus, um sich ein Bild zu machen....more
Edgar Selge ist auch Menschen wir mir, die sich in der deutschen Schauspiellandschaft kaum auskennt, als seriöser, versierter Schauspieler bekannt. DeEdgar Selge ist auch Menschen wir mir, die sich in der deutschen Schauspiellandschaft kaum auskennt, als seriöser, versierter Schauspieler bekannt. Deshalb hielten meine Zweifel, als ich hörte, dass er – wie so viele Prominente – ein Buch geschrieben hat, sich in Grenzen. Ich traute ihm das zu und wurde nicht enttäuscht. Seine Erinnerungen an seine Jugend in dem vor allem musisch geprägten Haushalt, der frühe Verlust zweier seiner Brüder, die Konflikte mit dem schlagenden, auch sexuell missbräuchlichem Vater, die Auseinandersetzung Selges und seiner Brüder mit der mitläuferischen Vergangenheit der Eltern unter dem Nationalsozialismus, haben mich tief bewegt. Meine Eltern waren etwas älter als Selge, haben aber ebenso als junge Erwachsene die Nachkriegszeit durchlebt, weshalb für mich die Distanz zum Erzählten gering war. Der Mann kann schreiben und er hat viel zu erzählen....more
Monschau 1962: In einer großen Fabrik im Ortsteil Lammerath herrscht große Aufregung, als die Tochter eines kürzlich aus Indien zurückgekehrten ArbeitMonschau 1962: In einer großen Fabrik im Ortsteil Lammerath herrscht große Aufregung, als die Tochter eines kürzlich aus Indien zurückgekehrten Arbeiters mit Pocken ins Krankenhaus eingeliefert wird. Nicht auszudenken, dass die Fabrik nun geschlossen werden müsste, der Ort unter Quarantäne gestellt werden müsste. Der junge Arzt Nikolaos Spyridakis wird als Werksarzt nach Monschau beordert. Zufälligerweise ist auch die Firmenerbin Vera Rither vor Ort, die sonst in Paris studiert.
Steffen Kopetzky hat angesichts unserer nun ein Jahr andauernden Pandemie ein hochaktuelles Thema gewählt, das auf einer wahren Begebenheit beruht: In der Eifel gab es 1962 tatsächlich einen Ausbruch der Pocken.
Kopetzkys letzte Bücher, „Risiko“ und „Propaganda“ habe ich mit Begeisterung gelesen, bzw. gehört, besonders gut gefiel mir auch der Zusammenhang, der zwischen beiden Büchern besteht. Dies wird in „Monschau“ weitergeführt: Auch hier gibt es einen Bezug zur Schlacht im Hürtgenwald, die in „Propaganda“ thematisiert wurde. Entsprechend hohe Erwartungen hatte ich an Kopetzkys neues Buch. Ich muss jedoch – ich sage es wirklich sehr ungern – leider feststellen, dass „Monschau“ bei Weitem nicht an seine Vorgänger heranreicht. Es ist sicher wieder gut recherchiert und sprachlich überzeugend, aber die Geschichte gibt einfach nicht das her, was man sich von ihr verspricht. Es ist eine sehr vorhersehbare Liebesgeschichte eingebaut, die zeitweise im Vordergrund steht, die Charaktere bleiben dabei eher blass, sodass die Leser*innen sich dem Paar eher gleichgültig gegenübersehen. Es gibt einen kleinen Subplot um den korrupten Direktor der Firma, der jedoch mein Interesse nicht wirklich wecken konnte. Die Epidemie verläuft glimpflich und ebbt ohne große Geschehnisse ab. Es gibt natürlich Parallelen zur aktuellen Situation, Menschen, die sich der Quarantäne widersetzen, das ist sicher auch der Grund, warum Kopetzky die Ereignisse in der Eifel aufgegriffen und das Buch zu diesem Zeitpunkt veröffentlicht wurde.
Viel mehr kann ich zu „Monschau“ gar nicht sagen, ich wünsche mir, dass Kopetzky, der längst bewiesen hat, was er kann, sich vielleicht für den nächsten Roman wieder mehr Zeit lässt und ähnlich komplexe Plots entwickelt, wie wir es von ihm gewohnt sind....more
KD Pratz ist ein berühmter Künstler, der als kauzig gilt und sehr zurückgezogen in einer Burg am Rhein wohnt. In Frankfurt gibt es ein kleines Museum,KD Pratz ist ein berühmter Künstler, der als kauzig gilt und sehr zurückgezogen in einer Burg am Rhein wohnt. In Frankfurt gibt es ein kleines Museum, dessen Förderverein einen Anbau finanzieren möchte, in dem Gemälde von KD Pratz untergebracht werden sollen. Zu diesem Förderverein gehören Konstantin Marx und seine Mutter Ingeborg, die ein besonders großer Fan des Malers ist. Obwohl dieser als extrem schwierig gilt, organisiert der Museumsleiter eine Reise des Fördervereins an den Rhein, um KD Pratz kennenzulernen und sein Studio zu besichtigen. Die Gerüchte um den schwierigen Künstler erweisen sich bald als wahr…
Klingt an sich nicht besonders spannend, aber das Buch wurde unter anderem von Dennis Scheck gelobt und sollte eine amüsante Satire über den Kunstbetrieb sein.
Und über lange Strecken war das Buch genau das, recht amüsant, aber umgehauen hat es mich nicht. Von Anfang an erinnerte mich das Szenario ans Isabel Bogdans „Der Pfau“, doch an dessen Humor kam es nicht ganz ran. Es hat aber durchaus Spaß gemacht, wie Konstantin und Ingeborg die anderen Mitglieder des Fördervereins sehen, etwa das „Einstecktuch“, und wie die Situation im Umgang mit KD Pratz langsam eskaliert, bis es schließlich zum finalen Streit kommt. Der markiert nicht das Ende des Romans, dieses folgt aber bald und war tatsächlich so köstlich und hat mir so viel Vergnügen bereitet, dass ich die Wertung des Romans von drei auf vier Sterne erhöht habe.
Kristof Magnusson nimmt den Kunstbetrieb, einschließlich seiner oft als „abgehoben“ empfundenen Ausdrucksweise und der kunstinteressierten Intellektuellen wunderbar aufs Korn. Das Buch ist kein Meisterwerk, aber durchaus unterhaltsam und enthält darüber hinaus auch noch einen netten Fußballwitz.
Devid Striesow macht seinen Job solide, verstellt seine Stimme nicht zu sehr, bringt aber die Eigenheiten der Charaktere gut zum Ausdruck....more
In einem Dorf im Westerwald, in den achtziger Jahren. Die Oma der kleinen Luise, Selma, hat von einem Okapi geträumt. Scheint zunächst kein AlbtraumpoIn einem Dorf im Westerwald, in den achtziger Jahren. Die Oma der kleinen Luise, Selma, hat von einem Okapi geträumt. Scheint zunächst kein Albtraumpotenzial zu haben, doch: Immer, wenn Selma von einem Okapi träumt, stirbt jemand. Die verschrobenen Bewohner des Westerwalddorfes stellen sich auf ihr mögliches Ableben ein. Wird wirklich jemand sterben? Und wann wird Selma das nächste Mal von einem Okapi träumen?
Kann man einen vergnüglichen Roman über Tod und Trauer schreiben? Mariana Leky kann. Natürlich kommt auch noch eine Portion Liebe dazu, auf gänzlich unkitschige und ebenso vergnügliche Weise. Wir erleben mit, wie Louise ihren ersten großen Verlust bewältigt, wie sie erwachsen wird, wie sie sich verliebt. Begleitet wird sie nicht nur von ihrer Oma Selma, sondern natürlich auch von ihren Eltern (zumindest zum Teil) und einigen der nicht weniger verschrobenen Nachbarn, der abergläubischen Elsbeth, der Misanthropin Marlies und dem Optiker, der seit Jahrzehnten heimlich Selma liebt.
Es ist eine Geschichte aus dem Leben, die Mariana Leky uns erzählt, in dem kleinen Dorf im Westerwald geschieht Weltbewegendes, nicht für die Menschheit, aber eben für Luise und ihre Mitmenschen, die helfen, aus ihr eine Frau zu machen, die weiß, was sie will.
Der Humor des Buches ist herrlich, lässt die Leserin laut lachen, nie bösartig, aber immer skurril.
So mancher Satz brachte mich zum Nachdenken:
„Jetzt, als er die Tür öffnete, erschien in seinem Kopf eine Frage, nämlich ob man, wenn man ein altes Haus betritt, auch von dem alten Haus betreten wird.“ (Seite 304).
Selmas baufälliges altes Haus spielt eine wichtige Rolle in dem Buch, es scheint eine Erweiterung Selmas zu sein, an dem nichts verändert werden darf, solange sie lebt. Der Roman hält uns vor Augen, dass es nicht nur eine Lösung gibt im Leben, dass die Alternative manchmal die klügere Wahl ist, mit der man zufrieden sein darf....more
Italien, 951: Die jung verwitwete Königin von Italien, Adelheid, wird von Berengar von Ivrea, der die Krone für sich gewinnen will, in Garda gefangengItalien, 951: Die jung verwitwete Königin von Italien, Adelheid, wird von Berengar von Ivrea, der die Krone für sich gewinnen will, in Garda gefangengehalten. Er verlangt, dass sie seinen halbwüchsigen Sohn heiratet. Doch es naht Hilfe von ungeahnter Seite: Der junge Panzerreiter Gaidemar, ein hochrangiger Bastard in den Diensten König Ottos, verhilft ihr zur Flucht. Dummerweise verliebt er sich in die schöne Königin, auch wenn diese für ihn natürlich unerreichbar ist. Tatsächlich heiratet sie kurz darauf König Otto des ostfränkischen Reichs selbst, denn auch dieser ist seit mehreren Jahren verwitwet. Gaidemar wird zu einem Vertrauten der Königin, bis er von keinem geringeren als Ottos berühmt-berüchtigten Bruder Henning verleumdet wird.
Rebecca Gablé siedelt ihren zweiten Roman um den ostfränkischen König und späteren Kaiser des Heiligen Römischen Reiches einige Jahre nach den Ereignissen von Das Haupt der Welt an. Otto ist inzwischen verwitwet und sein unehelicher Sohn Wilhelm sowie seine Kinder aus der Ehe mit Editha, Liudolf und Liutgard, sind erwachsen. Diese historischen Persönlichkeiten spielen neben dem Protagonisten Gaidemar die Hauptrolle in dem umfangreichen Roman. Anders als in „Das Haupt der Welt“ ist der Protagonist hier eine fiktive Figur (Tugomir ist historisch, wenn auch stark fiktionalisiert), dessen Geschichte Gablé jedoch gewohnt geschickt mit der der historischen Figuren verwebt. Das Ganze ist, vor allem für Geschichtsfreaks, höchst unterhaltsam und geschichtstreu. Anders als dies häufig bei zweiten Teilen ist, hat man hier keineswegs den Eindruck, dass sich dieselbe Geschichte nur mit anderen Personen wiederholt, Gablé hat es geschafft, mich mit einigen Wendungen wirklich zu überraschen. Otto ist dem Leser nicht ganz so sympathisch wie im ersten Teil – zu starrköpfig hält er seinem Bruder Henning bei, der auch hier wieder ein echtes Scheusal ist, – zum Schaden unseres Helden Gaidemar, der allerdings gelegentlich auch einen Hang zu Starrsinn hat.
Was die Geschichte angeht, erleben wir hier einige Höhepunkte mit Gänsehautgarantie, allem voran die Schlacht auf dem Lechfeld. Die Darstellung Adelheids hat mir gefallen, es wird deutlich, wie gebildet und klug sie war und wie groß ihr Einfluss auf Otto war, ohne sie jedoch zu überzeichnen.
Wer sich auf ein Wiedersehen mit den Figuren aus „Das Haupt der Welt“ gefreut hat, wird nicht enttäuscht, im Laufe des Buches kommen sie alle wieder vor, auch wenn neben Otto nur dessen Bastard Wilhelm und Liudolf noch eine größere Rolle spielen.
So macht Geschichte Spaß, wie Teil eins ist Gablés zweiter Otto-Roman gut recherchierte und gelungene Unterhaltungsliteratur mit tollem Informationsgehalt.
Detlef Bierstedts Stimme ist markant, für mich keine typische Sprecherstimme, was keinesfalls negativ gemeint ist. Er gibt den Figuren wie bereits in „Das Haupt der Welt“ unterschiedliche Färbungen und liest in angenehmem Tempo....more
Sommer 1944 im Schwabenland. Unser 15-jähriger Ich-Erzähler (bei dem es sich wohl um Oliver Storz selbst handelt) und seine gleichaltrigen Freunde macSommer 1944 im Schwabenland. Unser 15-jähriger Ich-Erzähler (bei dem es sich wohl um Oliver Storz selbst handelt) und seine gleichaltrigen Freunde machen sich keine Illusionen: Keiner von ihnen bewundert den Führer, hängt seiner Ideologie an oder glaubt gar an den Endsieg. Sie hoffen einfach nur, dass es bald vorbei ist mit dem Krieg.
„… durch das Geräuschdickicht der Störsender drängen die Klänge von Benny Goodman, Duke Ellington, Glenn Miller und Konsorten, eine Musik, die nicht mehr trampelnd marschierte, sondern verführte – und damit waren wir unrettbar verloren fürs National-Heroische“. (Seite 25)
Lieber treffen sie sich im örtlichen Freibad und bewundern die ein paar Jahre ältere Lore in ihrem roten Badeanzug. Doch dann werden sie plötzlich von SS-Leuten geschnappt und zu einer Musterung in einer Turnhalle gebracht. Von der SS eingezogen zu werden, das gilt es auf jeden Fall zu vermeiden.
Oliver Storz verarbeitet in seinem stark autobiographisch geprägten Roman aus dem Jahr 2008 seine eigenen Erinnerung an die letzten Kriegsjahre, den Einzug zum Volkssturm und von Teilen seiner Clique zur SS sowie die unmittelbare Nachkriegszeit mit der Besatzung durch die USA. Es ist eine Generation, die nur noch eines sein will: frei. Natürlich sind das keine idyllisch-nostalgischen Erinnerungen, nicht alle seine Freunde überleben den 2. Weltkrieg und den Tod haben sie alle gesehen.
„Wenn aus der Tiefe der Jahrzehnte der Schmerz noch einmal heraufquellen und die Narben beleben würde – wer könnte das aushalten“? (Seite 96)
Besonders beeindruckt hat mich an dem Roman die wunderbare Sprache des Autors, es gibt viele Perlen unter seinen Sätzen, es finden sich Wortspiele und Anspielungen auf andere literarische Werke.
Das Buch macht außerdem nachdenklich, erinnert an eine Generation, die gerade ausstirbt, die noch gerade so am Krieg beteiligt war, das aber vielfach unfreiwillig. Ich musste an Günther Grass denken und fragte mich, ob er auch wie manche dieser Jungs einfach für die Waffen-SS „beschlagnahmt“ wurde, und erneut überlegte ich, warum das Eingeständnis seiner Zugehörigkeit so spät kam.
Das Buch gibt wertvolle Einblicke darin, wie diese Generation das Ende des Nazi-Regimes erlebt hat und ist als solches nicht nur ein sprachlich hochwertiger Roman, sondern auch ein Zeitzeugnis....more
Deutschland kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs in Europa. Der in Deutschland geborene amerikanische Militärangehörige Michael Hansen erhält den AuftDeutschland kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs in Europa. Der in Deutschland geborene amerikanische Militärangehörige Michael Hansen erhält den Auftrag, den Dissidenten Wagner zu befragen, der in der Vergangenheit mit dem Rassenhygieniker Alfred Ploetz befreundet war und viel über dessen Leben und Wirken weitergeben kann. Die Besatzungsmacht will mehr über den Mann erfahren, der den Begriff der „Rassenhygiene“ geprägt und die Eugenik-Strategie der Nazis stark beeinflusst hat.
Timm hat den Protagonisten seines neuesten Romans klug gewählt: Ein Amerikaner, ein Offizier, der einen Teil seiner Kindheit noch in Deutschland verbracht, der amerikanisch eingestellt ist, aber in beiden Welten zu Hause ist. Ich sagte „Protagonist seines Romans“, das stimmt nicht ganz, denn er ist lediglich der Protagonist der Rahmenhandlung. Nachdem wir Michael Hansen noch in Amerika kennengelernt und von seiner Affäre mit einer bereits verlobten Frau erfahren haben, setzt die Binnenerzählung ein, als Hansen Wagner kennenlernt und dieser beginnt, von seiner Freundschaft mit Alfred Ploetz zu erzählen. Von nun an wechselt Timm zwischen Binnen- und Rahmenhandlung hin und her.
Insbesondere erfahren wir von Wagner, dass Ploetz wie er selbst zunächst aus dem sozialistischen Milieu kam und insbesondere einer utopische Gesellschaftsform nach Étienne Cabet anhing. Die Befürworter einer solchen Gesellschaft nannten sich „Ikarier“ und strebten die Gleichheit aller nach einem kommunistischen Modell an. In Amerika wurde versucht, dieses Modell in einer kleinen Kolonie umzusetzen, und Ploetz und Wagner reisen nach „Ikarien“, um an der dortigen Gemeinschaft teilzuhaben. Bald müssen sie jedoch feststellen, dass diese weit davon entfernt ist, dem Idealbild zu entsprechen. Im Fall von Ploetz bedeutet dies vor allem, dass die Menschen nicht seiner Vorstellung eines schönen und klugen Ideals entsprachen. Und so kommen wir zur Rassenhygiene – Ploetz war überzeugt, der Mensch, heißt die überlegene nordische Rasse, müsse durch gezielte Zucht optimiert werden.
Ein gefundenes Fressen für die Nationalsozialisten, die sich Ploetz‘ Vorstellung einer überlegenen Menschenrasse der Arier zueigen machten und im Namen der Eugenik unzählige Menschen mit unerwünschten Eigenschaften, körperlichen oder geistigen Erkrankungen und letztendlich Millionen Juden ermordeten. Wir erfahren, wie ein zunächst dem Volk der Juden gegenüber positiv eingestellter Wissenschaftler sich im Namen einer Ideologie instrumentalisieren lassen konnte und wie gefährlich die Fehlinterpretation einer wissenschaftlichen Theorie, in diesem Fall der Evolutionstheorie, sein kann.
Versinnbildlicht wird Ploetz‘ fehlgeleitetes Lebenswerk durch das Scheitern seines größten Projekts, des Nachweises, dass der Genuss von Alkohol zu minderwertigem Nachwuchs führt. So begleiten wir Ploetz bis an sein Lebensende.
Mit „Ikarien“ hat Uwe Timm sich eines Themas angenommen, dass im ganzen Genre der Weltkriegsliteratur bisher nicht allzu oft besprochen wurde. Eine in jedem Fall lohnende und gut lesbare Lektüre....more
Kassel 1821: Die ehemalige Mätresse des alten Kurfürsten wird grausam ermordet aufgefunden. Der Mord hat eine Besonderheit: Die alte Dame wurde auf eiKassel 1821: Die ehemalige Mätresse des alten Kurfürsten wird grausam ermordet aufgefunden. Der Mord hat eine Besonderheit: Die alte Dame wurde auf eine ungewöhnliche Weise (mit heißem Wachs) ermordet. Nicht nur, dass diese Vorgehensweise in einem von den Gebrüdern Grimm veröffentlichtem Märchen angewandt wird, bei der Ermordeten wird außerdem ein Zettel mit einem Zitat aus diesem Märchen gefunden. Jacob und Wilhelm Grimm geraten unter Verdacht. Als im Münsterland die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff und ihre Schwester Jenny davon erfahren, beschließen Sie, nach Kassel zu fahren, um die Grimms zu unterstützen. Denn ausgerechnet dieses Märchen haben die Schwestern zur Sammlung beigetragen.
Ich freue mich immer über neue Bücher von Tanja Kinkel, denn sie versteht es wie kaum eine andere, aus allen möglichen historischen Stoffen einen lesenswerten und zur weiterführenden Lektüre anregenden Roman zu machen. Bei „Grimms Morde“ war ich erstmals ein wenig skeptisch, gleich vier historische Figuren in der Hauptrolle und dann auch noch verbunden mit einem Kriminalfall? Positiver war ich gestimmt, nachdem ich Kinkel in einem Interview über das Buch reden hörte. Die Beziehung zwischen den Gebrüdern Grimm und den Droste-Hülshoff-Schwestern bestand tatsächlich, die beiden haben mehrere Märchen zur Sammlung beigesteuert, und zwischen Jenny und Wilhelm bestanden wohl sogar zarte Bande, sie haben sich lange geschrieben, ein Paar konnten sie aufgrund ihres unterschiedlichen Standes freilich nicht werden. Außerdem: Auch einer der Morde ist ebenfalls historisch.
Liest man das Buch, stellt sich bald heraus, dass der Kriminalfall zwar durchaus spannend ist und konsequent verfolgt wird, doch dass das Highlight des Buchs tatsächlich die Beziehungen der beiden Geschwisterpaare untereinander und der Schlagabtausch zwischen ihnen ist, insbesondere zwischen Annette und dem eingefleischten Junggesellen Jacob. Die Dialoge bieten den meisten Spaß an dem Buch. Annette muss ihre übliche Schlagfertigkeit nach einem Vorfall, über den wir zunächst nichts Genaueres erfahren, erst wieder zurückgewinnen, der geistreiche Austausch mit den Brüdern bietet ihr hierzu die perfekte Gelegenheit. Die Beziehung zwischen den Schwestern erinnerte mich wiederholt an die zwischen Jane und Elizabeth Bennet in Pride and Prejudice. Überhaupt haben die Begegnungen zwischen den Geschwistern etwas Austeneskes. Die Unmöglichkeit einer Beziehung zwischen Jenny und Wilhelm wird behandelt, doch die interessantere Gegenüberstellung ist auch in dieser Hinsicht die zwischen Annette und Jacob, nur angedeutet, aber wahrnehmbar knistert es zwischen den beiden und man stellt sich vor, was die beiden für ein fulminantes Paar gebildet hätten.
Erwähnenswert ist ferner, dass Tanja Kinkel es schafft, die Sprache des Buchs angemessen an seine Zeitsetzung anzupassen, vor allem in den Dialogen kommt sie zur Anwendung, jedoch keineswegs in dem Maße, dass die Lesbarkeit des Buchs beeinträchtigt wird. Die alten Ausdrücke haben ihre ganz eigene Bedeutung, etwa die Verwendung der Anrede „Er“ statt „Sie“ im Imperativ, womit der Sprecher ausdrücken kann, dass er über seinem Gegenüber steht. Dies kann durchaus auch für Belustigung sorgen, ist der Satz „Sprech Er mir nun von der Freifrau“ nicht nett?
Fazit: Sie hat es wieder getan. Es ist für mich nicht ihr bestes Buch, aber ich will jetzt ins Münsterland die Burg Hülshoff besichtigen und Moorspaziergänge im Nebel machen. Außerdem hat das Buch mich dazu gebracht, endlich mit meiner Lektüre der Gesamtausgabe von Annette von Droste-Hülshoff fortzufahren (und irgendwann womöglich auch mit der Gesamtausgabe von Grimms Märchen in der ursprünglichen Fassung).
Ein weiteres lesenswertes Buch der Königin des deutschen historischen Romans....more