Die Metaphysik der Sitten

Schrift des Philosophen Immanuel Kant zur Rechts- und Tugendlehre

Die Metaphysik der Sitten ist die 1797 veröffentlichte Schrift des Philosophen Immanuel Kant zur Rechts- und Tugendlehre. Die Metaphysik der Sitten ist die Ausarbeitung der praktischen Philosophie auf der Grundlage der Theorie der Moral, die Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Kritik der praktischen Vernunft entwickelt hatte und deren Kern die Begründung des kategorischen Imperativs und das Verhältnis von Pflicht und Freiheit ist. Der Kategorische Imperativ und das damit verbundene Prüfverfahren ist ein Maßstab dafür, ob eine beabsichtigte oder ausgeführte Handlung geboten, erlaubt oder verboten ist. Damit ist die Grundfrage, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft gestellt hatte – Was soll ich tun? – nur zum Teil beantwortet, denn der Kategorische Imperativ gibt keine unmittelbare Leitlinie dafür, wie man seine Lebensführung gestalten soll. Erst in der Metaphysik der Sitten beschreibt Kant, unter welchen Gesichtspunkten man das Handeln des Menschen als ein moralisch gutem Leben bezeichnen kann.

Die Metaphysik der Sitten besteht aus zwei getrennten Teilen, die mit Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre sowie mit Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre betitelt sind. Es handelt sich um eine bedeutende Ausarbeitung einer deontologischen Ethik, die Kant als Pflichtenlehre gestaltet. In beiden Perspektiven bleibt der Kategorische Imperativ die Grundlage des Handelns. In der Rechtslehre behandelt Kant das moralisch gebotene Handeln in den äußeren Beziehungen der Menschen untereinander, die sich im positiven Recht niederschlagen. In der Tugendlehre befasst er sich hingegen mit den inneren, bloß subjektiven Maßstäben, die das Handeln für das Subjekt selbst als moralisch wertvoll kennzeichnen. Für die Tugendelehre gelten nur die Zwecke, die ein Mensch sich selbst setzt, während im Recht das Interesse anderer Menschen zu berücksichtigen ist. Kant unterscheidet somit Rechts- und Tugendpflicht. Die Tugendpflicht beruht auf einem inneren Zwang, die Rechtspflicht auf einem äußeren Zwang. Indem Kant das Gesamtwerk sowie die beiden Hauptteile jeweils als metaphysisch bezeichnet, bringt er zum Ausdruck, dass er Prinzipien ausarbeitet, die allein aus der Vernunft abgeleitet sind und nicht ihre Begründung in der Erfahrung haben.

Einordnung in Kants Werk

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Über die Entwicklung von Kants Denken zur Moralphilosophie weiß man recht viel aufgrund von zum Teil sehr ausführlichen Mitschriften über seine Vorlesungen zur Moralphilosophie, die er über einen längeren Zeitraum immer wieder vorgetragen und weiterentwickelt hatte. Diese Mitschriften sind vorwiegend in Band XXVII der Akademie-Ausgabe von Kants Werken festgehalten.[A 1] Dabei ist die Akademieausgabe nicht vollständig. Zudem weisen die einzelnen Mitschriften Lücken und Brüche auf. Sie geben dennoch ein ganzheitliches Bild von Kants Vorstellungen einer praktischen Moralphilosophie, das zeigt, wie die veröffentlichten Schriften im Zusammenhang stehen.

Kants Vorlesungen zur Moralphilosophie (ca. 1775)[1]5 und 1979.
Philosophia practica universalis Religio (= Abschnitt in Ethica) Ethica
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785),
Was heißt, sich im Denken orientieren? (1786),
Kritik der praktischen Vernunft (1788),
Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796)
Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791),
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1792),
Das Ende aller Dinge (1794)
Recension von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der Religion, nebst einem Anhange von den Todesstrafen (1783),
Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793),
Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795),
Die Metaphysik der Sitten (1797),
Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797)
Veröffentlichte Schriften Kants zur praktischen Philosophie nach 1781

Die Schriften zur Geschichtsphilosophie sind in der Übersichtstabelle nicht enthalten. Kant selbst hat die systematische Stellung seiner veröffentlichten Schriften untereinander nicht beschrieben. Lediglich in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten verweist er darauf, dass diese sich an die Kritik der praktischen Vernunft anschließt und zugleich eine parallele Arbeit zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft darstellt. Die theoretischen Grundlagenschriften zur Ethik, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und die Kritik der praktischen Vernunft (1788) erschienen zeitnah zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) und sind damit Teil des kritischen Gesamtwerks. Weitere Aufsätze wie Was heißt, sich im Denken orientieren? (1786) oder Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788) runden das Gesamtbild der voll ausgebildeten praktischen Philosophie ab. Wichtige Aussagen zur Ethik enthalten auch die Kritik der Urteilskraft (1790) und die Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). Im Jahr 1793 veröffentlicht Kant zudem einen Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift mit dem Titel Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in dem er sich gegen Vorwürfe von Christian Garve wehrt, dass seine Moralphilosophie zu theoretisch sei und auf Gefühle keine Rücksicht nehme. Hier finden sich einige von Kants Ansichten über das Verhältnis seines Pflichtbegriffs zur Tugend bzw. zur Tugendlehre. Es folgten: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), grundlegend für Kants Theorie zum Weltbürgerrecht, und Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796), einer Warnung vor mystischer Schwärmerei. Erst danach erschien die MdS als Konzept der Anwendung seiner Ethik. Nur damit ist eine vollständige Beurteilung der Ethik Kants im Ganzen[2] möglich. Dies ist bei Kritikern Kants, die sich nur auf die Grundlagenschriften beziehen, nicht der Fall.[A 2]

Einleitung in die Metaphysik der Sitten

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Historisch ist die Rechtslehre als eigenständige Schrift etwa ein halbes Jahr früher veröffentlicht worden als die Tugendlehre. Die Rechtslehre enthält deshalb nach einer kurzen Vorrede zunächst eine Einleitung in die Metaphysik der Sitten sowie nachfolgend eine zweite Einleitung in die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre. Die Tugendlehre ihrerseits hat eine eigene Einleitung, die sich auch auf die allgemeine Einleitung in die Metaphysik der Sitten bezieht.

In der Einleitung in die Metaphysik der Sitten begründet Kant, warum die Sittenlehre nicht auf der empirischen Erfahrung aufgebaut sein kann, sondern auf allgemeinen Vernunftüberlegungen aufzubauen hat. Jeder Mensch hat ein „Begehrungsvermögen“, also Wünsche und Begierden, die nicht auf Überlegungen und Schlussfolgerungen beruhen. Das Begehrungsvermögen drückt sich in Lust oder Unlust, etwas zu tun oder zu lassen, aus. Solche Gefühle sind rein subjektiv. Anders als rein triebgesteuerte Tiere kann der Mensch sich zu seinem Begehren verhalten. Er verfügt über die praktische Freiheit, über mögliche Konsequenzen des Handelns nachzudenken, diese zu bewerten und aufgrund von Gründen seine Handlungen zu beeinflussen. Der Mensch verfügt über einen Willen und kann nach seiner Willkür handeln. Moralisch vernünftig handelt er dabei, wenn er sich nach Gründen richtet, die allein aus Überlegungen hergeleitet sind und die Begierden außer Acht lassen. Das grundlegende Moralprinzip, das sich auch im Kategorischen Imperativ niederschlägt ist die Achtung des anderen Menschen mit gleichen Rechten. Die Vernunft gebietet, den Menschen als Person stets anzuerkennen:

„Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden Anderen verbunden.“ (TL, VI, 462)

Anmerkungen zur Rechtslehre

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Kant postuliert das angeborene Recht jedes Menschen auf Freiheit. Nach seiner Auffassung ist es Aufgabe des Rechts, die Ausübung der individuellen Freiheit der Einzelnen mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz in Übereinstimmung zu bringen.

Das Staatsrecht dient der Herausbildung einer staatlichen Ordnung, in der der Souverän – das Volk – Freiheit und Gleichheit aller Staatsbürger gewährleistet. Unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren des Staats nach Freiheitsgesetzen ist die Gewaltenteilung. Sind diese Bedingungen realisiert, gibt es jedoch kein Widerstandsrecht gegen staatliche Entscheidungen.

Das Weltbürgerrecht (ius cosmopoliticum) regelt das gemeinschaftliche Zusammenleben der Völker zur Verhütung von Kriegen.

Anmerkungen zur Tugendlehre

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Zu den Tugendpflichten gegen andere Menschen zählt Kant die „Achtung“ der Mitmenschen als Anerkenntnis ihrer Menschenwürde. Das Gebot lautet, die Menschen nie bloß als Mittel, sondern jederzeit immer auch als einen Zweck an sich zu gebrauchen.

Die Tugendpflicht gegen sich selbst dient – der Idee nach und als moralischer Zweck – der Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit. Gleichwohl ist diese lediglich eine sittliche Absicht, deren Umsetzung aus Mangel an Selbsterkenntnis höchst unvollkommen verwirklicht werden kann.

Siehe auch: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Zum ewigen Frieden, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.

„Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann.“[3]

Ausgaben

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  • Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Bd. 6: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik der Sitten. Unveränderter photomechanischer Abdruck von Kants gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band VI, Berlin 1907/14. de Gruyter, Berlin 1968 [1797], ISBN 3-11-001439-4, S. 203–492.
  • Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant: Werke. in 6 Bänden, Band 4: Schriften zur Ethik u. Religionsphilosophie. WBG, Darmstadt 1956. (1998, ISBN 3-534-13918-6)

Literatur

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  • Lara Denis (Hrsg.): Kant's Metaphysics of Morals. A Critical Guide. (= Cambridge critical guides). Cambridge 2010.
  • Wolfgang Kersting: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. 3. Auflage. Paderborn 2007, ISBN 978-3-89785-587-8.
  • Ottfried Höffe (Hrsg.): Klassiker Auslegen, Bd. 19: Immanuel Kant, „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“. Akademie Verlag, Berlin 1999, ISBN 3-05-003025-9.
  • Georg Römpp: Kants Kritik der reinen Freiheit Eine Erörterung der 'Metaphysik der Sitten'. Duncker & Humblot 2006, ISBN 3-428-11972-X.
  • Steffi Schadow: Recht und Ethik in Kants Metaphysik der Sitten (MS 6:218 –221 und TL 6:390 f.) in: Kant's "Tugendlehre": A Comprehensive Commentary, hrsg. von Andreas Trampota, Oliver Sensen und Jens Timmermann, Berlin, Boston, De Gruyter, 2013, S. 85–112
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Primärtext
Sekundärliteratur

Anmerkungen

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  1. Herausgegeben in drei Teilbändern von Gerhard Lehmann, 1974, 1975 und 1979. Der Band ist in zwei Halbbände geteilt. Der erste Halbband umfaßt die “Praktische Philosophie Herder” [1762-1764] (XXVII.1-90), die “Praktische Philosophie Powalski” [1777] (XXVII.91-236) und die “Moralphilosophie Collins” [1795] (XXVII.237-473). Im zweiten Halbband folgt die “Metaphysik der Sitten Vigilantius” [1793-1794] (XXVII.478-732), der Abdruck von Baumgarten “Ethica Philosophica” [1751], das “Naturrecht Feyerabend” [1784] (XXVII.733-1394) und die “Moral Mrongovius” [1782] (XXVII.1395-1581). Paul Menzer hat 1924 das Buch “Immanuel Kant, Eine Vorlesung über Ethik” veröffentlicht. Der Text wurde von der Kant-Gesellschaft zu den Feiern zum 200. Geburtstag Kants publiziert. Für die Herstellung des Textes benutzte Menzer drei Handschriften: 1. die “Philosphia practica universalis” von Friderico Brauer (1780) 2. die “Vorlesung über die Philosophische Moral” von G. Kutzner (1781) und 3. “Des berühmten Professor Kant zu Königsberg in Pr. philosophische Moral” von Mrongovius (1782). Er verwendete die Vorlesungnachschrift von Brauer als Basis und komplettierte den Text mit Hilfe der zwei anderen Heften. (Vgl. Paul Menzer: Einleitung (1924), in: Immanuel Kant. Eine Vorlesung über Ethik, leicht überarbeitete Neuauflage hrsg. von Gerd Gerhard: Fischer, Frankfurt 1990. Eine Neuedition unter dem Titel Vorlesung zur Moralphilosophie hrsg von Werner Stark mit einer Erläuterung und textkritischen Anmerkungen von Werner Stark und einer Einleitung von Manfred Kühn erschien 2004 bei de Gruyter. Zugrunde gelegt ist die Nachschrift Kaehler, die seit 1997 zum Kant-Archiv in Marburg gehört und die Stark in etwa auf das Jahr 1774/75 datiert.
  2. Weitere Hinweise finden sich in den im handschriftlichen Nachlass Kants dokumentierten Vorarbeiten zu vielen der genannten Schriften, so insbesondere auch zu der MdS, die in der Akademie Ausgabe in Band XXIII veröffentlicht sind.

Einzelnachweise

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  1. Immanuel Kant: Vorlesungen zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, de Gruyter, Berlin 2004 mit Erläuterungen zur Entstehung des Buches durch Werner Stark und einer Einleitung von Manfred Kühn
  2. Rose, Uwe. Kants Ethik im Ganzen: Studien zur Anwendung des kategorischen Imperativs, Berlin, Boston: De Gruyter, 2021. ISBN 978-3-11073726-4
  3. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Bd. 6. de Gruyter, Berlin 1968 [1797], S. 230.